Donnerstag, 17. März 2016

Der tiefste Grund - noch mehr Seiten


Für diejenigen unter euch, die schon vorauslesen möchten: Ab heute könnt ihr auf dieser Seite die Fortsetzung des ersten Kapitels von Band 8.1 lesen. Falls ihr den Anfang des ersten Kapitels noch nicht kennt, findet ihr ihn unter diesem Link:

Band 8.1, Kapitel 1 - zweiter Teil:

„Sieh mal!“, sagte Hanns und hob die Hand. Mit dem Finger zeigte er auf eine Stelle in seinem Gesicht, die zuvor durch einen Tarnzauber verborgen gewesen war. Ein blutiger Kratzer zog sich quer über Hanns’ linke Wange. Lisandra gab einen Laut der Überraschung von sich.
„Damit läufst du herum?“, fragte sie. „Estephaga könnte die Schramme sofort mit einem Heilzauber entfernen!“
„Ich könnte das auch, wenn es ein normaler Kratzer wäre. Aber er ist mit übelster Magikalie aufgeladen und daher nicht mit simplen Standardzaubern heilbar.“
Lisandra lachte los.
„Du sprichst von ... Cruda-Magie?“
Er antwortete nicht, aber lachte ebenso, was Antwort genug war.
„Was hast du verbrochen?“, fragte Lisandra. „Warum hat sie ihre Krallen ausgefahren?“
„Sie war eine Katze und es war nur Spaß“, erklärte er. „Oder was Crudas so unter Spaß verstehen. Gut, vielleicht habe ich sie auch ein wenig gereizt, weil ich nicht jedes Wort auf die Goldwaage gelegt habe ...“
„Was du natürlich mit voller Absicht getan hast!“
„Trotzdem kam der Angriff überraschend.“
„Du hast es bestimmt verdient.“
„Das Blöde ist“, sagte er, „dass ich jetzt warten muss, bis die Wunde auf normalem Weg ausheilt, und bis dahin muss ich mit diesem lächerlichen Tarnzauber herumlaufen. Die Leute sollen mich schließlich für einen allmächtigen Weltbeherrscher halten und da passt so ein Kratzer nur schlecht ins Bild.“
Mit unverhohlener Schadenfreude inspizierte Lisandra das Zeugnis von Scarletts Zorn in Hanns’ sonst so ansehnlichem Antlitz.
„Es könnte durchaus heldenhaft aussehen“, sagte sie, „wenn du dir den Kratzer im Kampf mit einem Drachen zugezogen hättest. Als Abzeichen deiner Tapferkeit.“
„Sie ist ein Drache!“, antwortete er. „Und sie zu lieben, ist lebensgefährlich, wie du ja wohl weißt.“
Lisandra war klar, worauf er anspielte. Erst vorgestern hatten sie und ihre Freundinnen die aufgebrachte Scarlett mal wieder von ihrer erschreckendsten Seite kennengelernt. Es war eine dieser Filmaufnahmen im Hungersaal gezeigt worden, die dafür sorgen sollten, dass die ganze Welt geschlossen hinter Hanns und seinen Verbündeten stand und angesichts der hübschen Bilder des Regenten-Paares alle Sorgen, Ängste und Nöte für eine Weile vergaß.
Leider zeigte eins dieser Bilder den schmucken Hanns mit seiner anmutigen Verlobten bei einer prunkvollen Abendveranstaltung in Tolois. Hanns hielt Lumilis Hand, führte sie durch eine Art Ballsaal voller herausgeputzter Gäste und ließ es geschehen, dass sie sich hingebungsvoll an seinen Arm schmiegte und ihn betörend anlächelte. Was dann geschah, hätte das Filmglas besser nicht eingefangen, denn Hanns drückte als Antwort seine Lippen auf Lumilis Stirn und die Welt sah einen Kuss, der so hochromantisch und zärtlich wirkte wie der Inbegriff der größten und reinsten Liebe.
Scarlett war es gelungen, im Hungersaal die Fassung zu bewahren, doch danach, im Zimmer 773, hatte sie ihrer Wut freien Lauf gelassen, was bedeutete, dass es in dem kleinen Raum extrem dunkel, selten unangenehm und überaus gruselig geworden war. Selbst Lisandras widerstandsfähiges Gemüt war dadurch auf eine harte Probe gestellt worden.
Zwischenzeitlich beruhigte sich die wütende Cruda wieder, doch nachdem Maria Hanns und Haul in Tolois abgeholt, durch ihre Spiegelwelt geführt und in das Zimmer der Mädchen gebracht hatte, in dem Scarlett immer noch schweigend schmollte, durften Lisandra und ihre Freundinnen erleben, wie tapfer Hanns tatsächlich war.
Scarlett und Hanns verschwanden fliegend im Garten und kurz darauf brach ein denkwürdiges Unwetter los. Bei den Cruda-Blitzen und bösartigen Donnerschlägen, die auf die Festung herniederfuhren, bekam selbst Haul Angst um Hanns’ Unversehrtheit. Doch das Unwetter beruhigte sich irgendwann, die Festung stand am nächsten Morgen noch und Scarletts Lächeln am Frühstückstisch ließ vermuten, dass die Auseinandersetzung ebenso wie die anschließende Versöhnung ganz nach ihrem Geschmack verlaufen waren.
Die Sache mit Lumili war aber auch eine schwierige Angelegenheit. Lisandra nahm zwar stark an, dass Hanns die Wahrheit sagte, wenn er behauptete, dass ihm nichts an seiner Verlobten lag. Bestimmt tat er auch nichts Verwerflicheres, als Lumili ab und zu ein paar harmlose Küsse zu geben. Doch Lisandra hätte keine solche Filmaufnahme von Haul und einem anderen Mädchen sehen wollen, noch dazu vor dem Hintergrund, dass Hanns das sagenhaft schöne Geschöpf, das er so zuvorkommend behandelte, womöglich eines Tages wirklich würde heiraten müssen. Insofern verstand Lisandra Scarletts Wut. Sie verstand aber auch, dass Hanns ein wichtiges Ziel verfolgte. Er war entschlossen und er würde weit gehen – zu weit vielleicht – um zu schaffen, was er sich vorgenommen hatte.
Lisandra schreckte aus ihren Gedanken hoch, da nun passierte, worauf sie und Hanns gewartet hatten: Die Tür, die früher in die neue Welt geführt hatte, öffnete sich und Gerald trat in den Keller, in Begleitung von Viego Vandalez. Im Hintergrund sah Lisandra kurz das Treppenhaus der Spiegelwelt aufschimmern – es war der einzige Ort, an den diese Tür noch führte, und das auch nur, wenn sich Maria in der Spiegelwelt aufhielt. Viego Vandalez nickte grimmig in Richtung Hanns.
„Wo ist Haul?“
„Kommt gleich“, erklärte Hanns. „Keine Sorge!“
„Ich mache mir keine Sorgen“, erwiderte Viego, „aber meine Zeit ist knapp.“
„Meine auch“, sagte Hanns. „Haben wir d-das Problem nicht alle?“
Viego ignorierte den Einwand und schimpfte stattdessen los:
„Die Arbeiten, die ich vor einer Woche in Auftrag gegeben habe, sind immer noch nicht erledigt! Nicht mal zur Hälfte! Ich frage mich, ob deine Leute die richtige Moral an den Tag legen oder ob sie sich in der Sonne Lettimurs nur gründlich ausruhen möchten!“
Hanns warf Lisandra und Gerald einen vielsagenden Blick zu, den diese ebenso vielsagend erwiderten. Es war kein Geheimnis, dass Viego Vandalez den Eroberer von Amuylett seit genau dem Tag nicht mehr ausstehen konnte, an dem ihm von der heimlichen Liebesbeziehung zwischen Scarlett und Hanns berichtet worden war – einer Affäre, die in ihrer schlimmsten Konsequenz bedeuten konnte, dass Lettimur für den Rest der Ewigkeit ohne Viegos Lieblings-Cruda auskommen müsste. Es sei denn, Hanns brach Scarlett noch rechtzeitig das Herz, indem er bei einem Weltuntergang starb oder eine andere heiratete.
Obwohl es – darin waren sich Lisandra und Gerald einig – absolut aussichtslos war, versuchte der Halbvampir immer wieder, einen Keil zwischen Scarlett und ihre unmögliche große Liebe zu treiben. Er wollte sie unbedingt davon überzeugen, dass der blonde, sich selbst maßlos überschätzende und penetrant unersättliche Fortinbrack-Junge nicht dazu geeignet wäre, Scarlett für immer glücklich zu machen.
„Er taktiert, er intrigiert, er hat die falschen Freunde und eine Verlobte, die er nicht verdient!“, hatte Viego erst gestern wieder gepredigt. „Er liebt das Risiko und den Nervenkitzel und du bist nur eine der Attraktionen, mit denen er seine fragwürdigen Anstrengungen würzt. Je eher du begreifst, dass er dich nur als willkommene Abwechslung missbraucht, desto besser!“
„Auf wen soll ich mich denn sonst stürzen?“, hatte Scarlett erwidert, wobei allen Anwesenden klar gewesen war, dass sie die Einwände des Halbvampirs nicht eine Sekunde ernst nahm. „Wer ist gut genug für mich? Gerald vielleicht?“
„Das kann ich dir nicht sagen. Ich finde nur, du solltest dein großes, spezielles und von mir sehr geschätztes Cruda-Herz nicht wegwerfen, indem du dich von einem größenwahnsinnigen pubertierenden Super-Zauberer an der kurzen Leine herumführen lässt wie ein beschränktes, treudoofes Hündchen.“
An der Stelle hatte Scarlett kurz nach Luft geschnappt und es war Viego anzusehen gewesen, dass er erwog, ein wenig einzulenken, doch irgendetwas an seiner Aussage veranlasste Scarlett, ganz plötzlich ihren Blick abzuwenden und dabei so verträumt auszusehen, dass Viego beschloss, mit aller Konsequenz bei der Härte seiner Worte zu bleiben. Als Scarletts Aufmerksamkeit zu ihm zurückkehrte, verblüffte sie ihn mit einem unerwartet sanftmütigen Tonfall.
„Du brauchst nicht besorgt um mich zu sein, Viego!“, sagte sie. „Es soll unschuldigere Mädchen geben als mich, die sich wider alle Vernunft in gefährliche Männer verlieben – in Halbvampire zum Beispiel! Also lass mir meine verhängnisvolle Liebe, es sei denn, du bereust, dass sich Geraldine vor langer Zeit für dich entschieden hat.“
In solchen Momenten bereute es Viego sicherlich, dass er Scarlett gebeten hatte, sie zu duzen. Die Autorität, die mit einem förmlichen Sie einherging, hätte er in diesem Moment gut gebrauchen können.
„Mich und Hanns kannst du wohl kaum vergleichen“, hatte er gebrummt. „Geraldines Herz war bei mir sicher.“
„Mein Herz braucht keine Sicherheit“, hatte Scarlett erwidert, „sondern Leben!“
 Diese Einstellung konnte und wollte Viego nicht teilen, doch das bewahrte ihn nicht davor, ebenfalls auf den Unsicherheitsfaktor Hanns angewiesen zu sein, denn nur mithilfe des Amuylett-Eroberers ließ sich die neue Welt schnell und effektiv auf den Zuzug vieler Menschen vorbereiten.


Dienstag, 15. März 2016

Tiefe Gründe


Eine Leserin hat mich gefragt, was mit „Der tiefste Grund“ gemeint ist – ob es sich dabei um einen Grund wie den Meeresgrund handele oder eher um ein Motiv. Oder beides? Tatsächlich besitzt der Titel des nächsten Sumpfloch-Saga-Bandes beide Bedeutungen: Der tiefste Grund beschreibt einerseits einen Ort; in diesem Fall ist es der tiefste Stollen in den Minen des Verfluchten Tals und damit der tiefste Grund Amuyletts.
Und andererseits beschreibt er so etwas wie eine letzte Antwort, einen tiefsten Gedanken, einen bis ins Letzte hinterfragten wahren Grund. Dieser Grund muss gar nicht ausgesprochen werden, aber das Suchen danach, das Hinabsteigen im eigenen Geist auf der Suche nach dem, was wirklich von Bedeutung ist – das soll der Titel auch ausdrücken.
Das Schreiben der Saga ist ebenfalls ein solches Hinabsteigen, eine Suche nach den wesentlichen Schritten. Eine solche Suche sollte man nicht zu verbissen oder zu ernst angehen. Das Schwierige – und gleichzeitig auch das Gute daran – ist, dass man nur tanzend in den richtigen Takt kommt, im Schreiben wie im Leben. Die Gedanken springen an die richtige Stelle, an die sie gehören, wenn man sie loslässt und dabei das Wesentliche im Blick behält. Es ist nicht ganz so einfach, wie es klingt :-). Doch ich lerne täglich dazu und die Geschichte wächst.